Vier mal vier dünne Stahlstäbe markieren ein Quadrat in der freien Natur, nicht allzu groß, aber auch nicht klein, der Maßstab orientiert sich in Höhe und Abstand am Menschen. Die konstruktivistische Basis dieser Stäbe – sie stehen auf verzinkten Platten von 1m Kantenlänge – trägt ein wildes Gebilde aus dünnem Maschendraht, formal so wenig fassbar wie eine Cumuluswolke und mit dem Handelsbegriff „Hasendraht“ geradezu poetisch umschrieben. Die Stäbe sind hochglänzend, der Draht ist hell, beides trägt keine Eigenfarbe, sondern gibt das Licht aus der Umgebung in allen spektralen Erscheinungen zurück: bei hellem Sonnenschein anders als unter trübem Himmel, bei nächtlichem Kunstlicht unter verschiedenen Leuchtmitteln anders, je nach Hintergrund zudem als Schatten auf Boden oder Wand. Immer aber bleibt die Erscheinung des Lichts immateriell und die Form trotz fest konstruktivem Grund offen. Die Skulptur gewinnt 2015 TheRhinePrize und markiert eine wichtige Station der Künstlerin Martine Seibert-Raken und zeigt auch viele Charakteristika ihrer Arbeit auf.

Mit dem Handwerk hat sie begonnen, über das Design ist sie schließlich zur bildenden Kunst gekommen: Martine Seibert-Raken arbeitet seit einigen Jahren im Dreiländereck dieser Disziplinen, mit durchaus wechselnden Schwerpunkten und in sehr diversen Medien. Ihre bildhauerische Arbeit verrät handwerkliches Können wie designerische Eleganz, beharrt aber auch auf künstlerischer Autonomie gegenüber fast jeder Indienstnahme. Die Skulpturen von Martine Seibert-Raken verbinden Holz und Metall, aber auch Licht und irisierende Kunststoffe. Meist stehen sie für sich, manchmal hängen sie als Reliefs an der Wand oder als Objekte von der Decke herab. Andere wiederum können als Tisch oder Leuchte genutzt werden und behalten dennoch ihre Eigenart als Kunstwerk. Die erfolgreichsten Arbeiten von Martine Seibert-Raken werden als Installationen in Gärten, auf Hausdächern oder im urbanen Raum inszeniert. Wie alle guten Skulpturen sind die Werke all-ansichtig; man muss um sie herumgehen, sich ihnen seitlich oder aus unterschiedlichen Perspektiven nähern, um sie ganz zu verstehen oder sich an ihnen zu erfreuen. Für Reliefs und Gemälde gelten selbstverständlich andere Regeln des Ansehens; auch sie sind im Œuvre von Martine Seibert-Raken fest verankert.

Das Handwerk ist auch weiterhin die Grundlage ihrer künstlerischen Arbeit, ganz im Sinn des Soziologen Richard Sennett: Erlernt wird der Umgang mit Material und Werkzeug als implizites Wissen, d.h. durch Nachahmung meisterlicher Vorbilder ohne sprachliche Distanzierung und Reflexion. 1 In allen Aspekten des Umgangs mit Holz hat die Künstlerin die traumwandlerische Sicherheit, die es nur nach langer Praxis mit einem Material gibt. Sie wählt das richtige Holz für den richtigen Zweck aus, sie kennt die Bedeutung des Halbzeugs für die endgültige Form und deren Gestaltung, sie weiß alle Behandlungen von Oberfläche und Binnenstruktur zu unterscheiden und wendet sie selbstverständlich an, ohne je darüber nachdenken zu müssen – es gelingt ihr einfach alles. Diesen Umgang hat sie sich mit anderen Materialien, vom Stahl bis zur Leinwand und den darauf zu platzierenden Farben, erst aneignen müssen; hier spiegelt sich in jedem Resultat auch die bereits sprachlich gefasste Reflexion des eigenen Handelns wider. Das gilt insbesondere für die Malerei, deren Stand in der Gesellschaft der bildenden Kunst kein leichter ist: Die Brüche ziehen sich durch viele Werke, auch durch die von Martine Seibert-Raken. Es sind vor allem, wie Christof Breidenich einmal festgestellt hat, mediale Brüche, die mit der Frage beginnen, warum noch gemalt oder bildhauerisch gearbeitet werden soll, wenn die Computer schon das Allermeiste visualisieren können und auch sonst nahezu alles im Internet zu finden ist. 2

Vor den Brüchen kommen die Kontraste: Die Gestalterin setzt Tische und Bänke auf durchbrochene Metallplatten, die ihre Trägerfunktion zudem diagonal versehen, sich also einer einfachen Zuordnung im Anblick entziehen. Der Kontrast zwischen einer Hohlform – runder Ausschnitt eines quadratischen Blechs – und einer geschlossenen Platte, die für einen funktionierenden Tisch vonnöten ist, kommentiert zugleich andere Kontraste: zwischen rund und eckig, zwischen schwer und leicht, zwischen durchbrochen und verdeckend. Daneben sorgen formale Kontraste für Irritationen der Verhaltenserwartung – wer einmal schmunzelnd zugesehen hat, wie Menschen überlegen, ob sie auf einem Tisch von Martine Seibert-Raken ein Glas abstellen dürfen oder sich auf einen ihrer Hocker setzen können, der erlebt diese Irritationen als unmittelbar körperliche Erfahrungen. Am Ende siegt dann immer die Funktion über die Form, dann darf es im Umfeld dieser Objekte sogar gemütlich werden. Das harte Metall steht auf rauhem Grund, die schrundigen Malgründe verschwimmen an der Wand, die weichen Drähte tasten sich vorsichtig in den Raum, der von Besucher*innen des Ateliers ohnehin gefüllt ist. Alle Werke von Martine Seibert-Raken fragen nach einer präzisen Platzierung, einfach dem ihnen angestammten und zustehenden Raum.

Zum Raum gehört die Farbe, das weiß die Designerin nur zu gut. Nach vielen Experimenten sind ihre Objekte inzwischen von einer materialgerechten Farbigkeit geprägt, sei es bei den Metallskulpturen und –designs oder in der Malerei, wo helle und dunkle Erdtöne dominieren und auf die Grundlagen der Gestaltung verweisen: auf das rituelle Anmischen von Erde zum Auftragen auf Gegenstände und damit zu deren kultureller Überhöhung. Also dominieren insgesamt auch die gedeckten, erdigen Farben über das Anorganische, Chemische – ein dunkles Ochsenblutrot, ein mattes Indigo-Blau, das sind die Farben der Hölzer, die dann selbst wieder Hasendraht oder andere, formlose Gebilde tragen, die sich als Reliefs von der Wand aus oder als Skulpturen von ihrem Sockel aus wild in den Raum hinein bewegen und dort mit dem Licht spielen. Ein Spiel ist auch die Begegnung mit diesen Reliefs – mehr als mit den Skulpturen gleicher Art –, weil das Vor und Zurück der Betrachtung mit jener Entgrenzung des Bildraums umgeht, die die Malerei seit dem Zweiten Weltkrieg umtreibt. Hier spielt vor allem die Definition des Grundes eine Hauptrolle, denn dieser kalibriert den Blick auf das Verhältnis von Kunstwerk und Wand. 3 Und diese Kategorie ist eine der wenigen, die aus dem Design in die bildende Kunst hinüber führt.

Etwas anders ist das Dekor in der Kunst verankert, im Prinzip mehr nach des Wortes alter Bedeutung: das Angemessene, auch: der Schutz vor Veränderung, Nachahmung, Verallgemeinerung und Gleichmacherei. 4 Das Dekor hat ebenfalls viel mit Oberfläche, Material und Farbe zu tun, kann appliziert sein oder ein sichtbares Resultat eines Arbeitsprozesses. Bei der Metallverarbeitung ist der Rost häufig in der Funktion des Dekors zu finden; er definiert die Zeit, in der sich ein Objekt von Oberfläche, Farbe und Binnenstrukturen her verändert. Aber er definiert auch eine Zeit, die nicht die des Menschen ist: Niemand kann dem Rost bei der Arbeit zusehen, es sei denn unter speziellen Rahmenbedingungen, für die Martine Seibert-Raken sicher nicht arbeitet. Dennoch sind, wie Thomas Raff nachgewiesen hat, Prozesse der Oxidation im allgemeinen und auf Metall im besonderen bereits seit Anbeginn des skulpturalen Gestaltens ein wichtiges Element künstlerischer Formulierungen. 5 Auch der Hasendraht ist nicht vor Rost gefeit und wird eines Tages anders aussehen als auf den Bildern etwa der preisgekrönten Installation.

Im Groben und Ganzen ist mit der Matrix von Form | Material | Farbe | Dekor bereits das Repertoire der Künstlerin Martine Seibert-Raken skizziert; es bedarf keiner Virtuosität im Pinselstrich, keiner Orgie aus Schleifpapier und Polierwolle, keines peniblen Vorentwurfs und keines Apparats von Dutzenden Helfer*innen zur Ausführung der Objekte. Vom Maßstab wie vom Machen her reichen der Künstlerin ihre Arme und Beine zur Fixierung der Größe; vom Gewicht und Volumen her dürfte gelegentlich ein Hebewerkzeug zum Einsatz kommen, aber auch da ist der Rahmen des Handelns überschaubar – in der Skulptur keineswegs eine selbstverständliche Voraussetzung. Es ist jedoch dieser menschliche Maßstab, der die Kunst wie das Design von Martine Seibert-Raken unmittelbar zugänglich macht, ganz gleich wo und wie sie ihre Arbeiten in Szene setzt. Wer sie einmal inmitten ihrer Werke erlebt hat, bemerkt die Kongruenz von Person und Werk, fühlt sich direkt im Ambiente ihres Wirkens aufgehoben. Das Design von Martine Seibert-Raken kann transloziert werden, nimmt sich im täglichen Gebrauch zurück, wird im Leben zur selbstverständlichen Kulisse. Die Kunst dieser Künstlerin will dagegen jeden Tag neu erfahren werden, stellt auch den Anspruch auf wiederholte Anschauung wie Auseinandersetzung. Beidem liegt das gleich Handwerk zugrunde, doch erst im Sehen, Denken, Erkennen, Nachdenken und vor allem im Gespräch über die Arbeit wird die Differenz von Design und Kunst erfahrbar – und es bleibt dennoch dieselbe Person, die dies geschaffen hat.

Dr. Rolf Sachsse

1 Richard Sennett, Das Handwerk, Berlin 2008, S.44-79.
2 Christof Breidenich, Malerei – die Ruhe während des Bildersturms, Diss.phil. Wuppertal 1999.
3 Gottfried Boehm, Matteo Burioni (Hg.), Der Grund. Das Feld des Sichtbaren, Paderborn 2012.
4 Andreas Brandolini, Carsten Feil, Yann Grienberger, Bernard Petry (Hg.), Ausst.Kat. Decor.um, Relecture contemporaine des techniques traditionelles de décor du verre, Meisenthal 2009.
5 Thomas Raff, Die Sprache der Materialien. Anleitung zu einer Ikonologie der Werkstoffe, München 1994.